Neues aus der Forschung: Möchte ich es wissen, oder doch nicht? - "Gewolltes Nichtwissen" im Alter

„Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.“ - mit diesem Satz beginnt der Philosoph und Naturforscher Aristoteles (384-322 v. Chr.) das erste Kapitel der „Metaphysik“. Dennoch entscheiden wir uns nicht selten dafür, leicht verfügbares Wissen weder zu suchen noch zu nutzen. Zum Beispiel: Die Neuropsychologin Nancy Wexler widmete ihre wissenschaftliche Karriere der Erforschung genetischer Grundlagen der Huntington-Krankheit, an der mehrere Mitglieder ihrer Familie verstorben sind. Als ihr im Jahr 1983 der Durchbruch in der Entwicklung eines Huntington Gen-Tests gelingt, entschieden sich Wexler und ihre Schwester, diesen nicht zu machen. Wexler lebt mittlerweile mit der Diagnose Huntington und erzählt, dass sie damals nicht mit diesem Wissen hätte leben können. Der Nobelpreisträger und deutsche Schriftsteller Günter Grass lehnte es für lange Zeit ab, seine ehemalige Akte der Staatssicherheit der DDR zu lesen. Er wollte nicht wissen, welche Freund*innen und Kolleg*innen ihn damals bespitzelt hatten. 

Was haben Grass und Wexler gemeinsam? Beide entschieden sich bewusst dafür, leicht zugängliche und aufschlussreiche Informationen nicht zu erhalten – ganz im Widerspruch zu Aristoteles‘ Grundsatz. Dieses Phänomen bezeichnet die Wissenschaft als „deliberate ignorance“ – auf Deutsch „gewolltes Nichtwissen“. Sowohl für Wexler als auch Grass überwogen mögliche negative Konsequenzen, wie das Wissen über eine zukünftige Krankheit oder die Enttäuschung gegenüber vergangenen Freundschaften. Forscher*innen nehmen an, dass dieses bewusste Ignorieren wie ein Schutzschild für unser emotionales Wohlbefinden dient.

Artikel: Hertwig, R., Wolke, J. K., & Schupp, J. (2021). Age differences in deliberate ignorance. Psychology and aging, 36(4), 407–414. doi.org/10.1037/pag0000603